Grenzgänger

Text von Ana Sous, erschienen in der Zeitschrift ATELIER, Dezemberausgabe 2013

Wo früher Kaffee geschmuggelt wurde, lädt Vera Sous heute zur Kaffeefahrt ein: In den Herbstferien verwandelte die Aachener Künstlerin das Zollhaus des deutsch-belgischen Grenzübergangs Köpfchen in ein Ausflugsschiff. Angeregt durch die Architektur des Grenzhäuschens erweiterte Sous die schon vorhandene „Kajüte“ unter Mithilfe von Freunden und Schülern um Bug und Heck aus Schwartenbrettern. Ein Sammelsurium aus bunten Lampen, Steuerrad, Kuriosem und Kitsch versetzt den Besucher an Bord eines fahrenden Schiffes

Es ist ein ebenso prominenter wie geschichtsträchtiger Ort, an dem Vera Sous mit ihrer Arbeit Ahoi gestrandet ist. Das belgische Zollhäuschen des Grenzübergangs Aachen/Raeren, einer der drei meist genutzten Verbindungsstraßen zwischen Deutschland und Belgien, ist schon von Weitem auszumachen. Seit den 50er Jahren trotzt das freistehende Gebäude Wind, Wetter und Pendlern, deren Autos heute noch dicht an ihm vorbeifahren.

Vera Sous erfasste das Potential dieses Ortes in Hinsicht auf Lage und Architektur, die die Künstlerin immer schon an ein Schiff erinnert hatte. Der Grenzübergang war seit der Frühen Neuzeit wiederholt Schauplatz bewegter Lokalgeschichte. Im 20. Jahrhundert spielten sich hier Fluchtversuche (insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus) und Schmuggelaktionen ab. Nach der Einstellung der Tätigkeit der Zollstation Köpfchen im Zuge des Schengener Abkommens 1995 bemühten sich die Behörden um den Abriss des Grenzhäuschens. Aufgrund der kulturellen Bedeutung des Ortes für die Menschen der Region kam es jedoch nicht dazu. 2000 formierte sich rund um diese Stätte der Verein Kunst und Kultur im Köpfchen (KuKuK), dessen Anliegen der kulturelle Austausch in der Grenzregion ist.

Vor dem Hintergrund der bewegten Geschichte der Grenze und der Arbeit des KuKuK erscheint der Grenzübergang Köpfchen als idealer Begegnungsort. Dieses fruchtbare Moment machte Vera Sous sich zunutze und erkannte von Anfang an: Der Schiffsbau muss ein soziales Projekt, eine offene Arbeitsstätte werden. Gezielt sprach die Künstlerin Fachleute an. In engem Dialog mit Handwerkern und befreundeten Künstlern entwickelte sie ein Konzept. Beruhend auf dem Prinzip der Reziprozität bot Sous die Möglichkeit zur Partizipation an ihrem Kunstwerk und forderte im Gegenzug Ideen und Tatkraft von Freunden. Die Resonanz war enorm und entwickelte Eigendynamik. Immer mehr Bekannte wollten helfen, brachten Einfälle ein, trugen Fundstücke und Seemannszeug zusammen, die das fertigen Schiff schmücken sollten. Mit täglich bis zu 6 Helfern entstand innerhalb weniger Tage aus dem alten Zollhäuschen ein Ausflugsdampfer.

Großes Interesse zeigten auch Passanten und Pendler, die anhielten, sich nach dem Projekt erkundigten und bisweilen anboten, sich einzubringen. Ihr Zuspruch ist sicherlich nicht zuletzt auf die Präsenz der Projekts in der medialen Öffentlichkeit (Regionalzeitungen und Lokalfernsehen) zurückzuführen. Durch die Begegnung mit Passanten kamen weitere Ausstellungsobjekte hinzu und einige Mitglieder eines Shanty-Chores kündigten ihr Erscheinen am Ausstellungstag an. 

Elementares Anliegen der Künstlerin war außerdem, ihre Schüler an der Gesamthauptschule Burtscheid in Aachen, an der sie seit 2009 Kunst unterrichtet, in ihr Vorhaben miteinzubeziehen. Bewusst wollte Vera Sous den Jugendlichen ein Ziel setzen: Die gemeinsame Arbeit an einem Kunstwerk, deren Abschluss die Eröffnung sein sollte. Das Thema des Schiffes und der Aspekt der Grenze konnten die Schüler für das Projekt begeistern. Nach gemeinsamen Überlegungen zu Möglichkeiten der Realisation entstanden in der Schule Länderflaggen und Rettungsreifen, darüber hinaus bestand das Angebot, in den Schulferien am Schiff mitzuarbeiten.

Im Zuge des Werkens setzten sich einige Schüler mit der Internationalität und der Frage der Grenzen auseinander. Viele der Jugendlichen aus Sous‘ Klasse stammen aus Familien mit Migrationshintergrund. Einige von ihnen haben nur befristete Aufenthaltsgenehmigungen und unterstehen damit der Residenzpflicht – sie dürfen die Grenze, an der ihr Schiff steht, nicht überqueren. Diese Schüler brachten zuallererst die Farben ihrer Herkunftsländer (wie die des Libanon und Afghanistans) auf Leinwand und hinterfragten damit Vera Sous‘ Vorschlag, europäische Flaggen zu malen. Damit prägen sie das Bild des fertigen Schiffs, das nun nicht nur von Flaggen der stabilen europäischen Staaten geziert wird, sondern ebenfalls von solchen aus Krisenländern.

Die Eröffnung des Schiffs am 3.November war Ausdruck des Gemeinsinnes und der Freude an der Partizipation der letzten zwei Wochen und gestaltete sich eher als Party, denn als Vernissage. Dicht drängten sich die Menschen im Grenzhäuschen; bei Grog und Überseerum wurden Seemannslieder angestimmt und Außenstehende eingeladen, teilzuhaben.

Neben der Eröffnung gab es noch einen weiteren Höhepunkt, der im Konzept Ahoi obligat war: Das Captain’s Dinner, zu dem Vera Sous ihre Helfer einige Tage vor der Eröffnung verpflichtete. Zum ersten Mal kamen alle Beteiligten gleichzeitig zusammen – Menschen, die sich nicht kannten und auf den ersten Blick nicht zusammenpassten. Doch über die Arbeit an ihrem Projekt fanden sie einen gemeinsamen Nenner. Damit war das Captain’s Dinner wichtiger Bestandteil der „Mannschaftsbildung“.

Die Mannschaftsbildung war Schlüsselgedanke des Projektes. Die Künstlerin entwarf ein Konzept und übernahm die Koordination, zielte aber bewusst darauf, die eigene Handschrift verschwimmen zu lassen. Auf freiwilliger Basis nahmen viele Freunde und Bekannte die Chance, selbst an Kunst teilhaben zu dürfen, an. Das Schiff wurde Anlaufstelle für Ideen und Objekte wie Erb- und Sammlerstücke, aber auch Selbstgebasteltes und -geschriebenes. Das Ergebnis trat dabei fast in den Hintergrund. Gemeinsam verbrachten Menschen, die sich hier erst kennenlernten, ihre Pausen im Innenraum des entstehenden Ausflugsdampfers, tranken Kaffee und Rum, erzählten… Ständig kamen neue Helfer hinzu, die sich von der Kollegialität anstecken ließen. Mit der Arbeit am Boot erschafften sie sich in den Herbstferien eine kleine Utopie.

Der Künstler als soziales Wesen: Innerhalb ihres Netzwerkes brachte Vera Sous Menschen mit verschiedenen Hintergründen und Fähigkeiten zusammen. So waren die Qualifikationen von Handwerkern und Architekten für den eigentlichen Schiffsbau maßgeblich, während Journalisten das Projekt in Zeitung und Fernsehen vorstellten. Die Verknüpfung verschiedener sozialer Welten zeigt sich in besonderer Weise im Anliegen der Künstlerin, die Ideen und Arbeiten – die politischen Flaggen und garantiert nicht seetaugliche Rettungsreifen – ihrer Schüler aufzunehmen.

Die enorme Identifikation verschiedenster Menschen mit dem Projekt gab Anstoß zu diversen Ausdeutungen. Vera Sous‘ Vorsatz war es zunächst lediglich, den Bau eines Ausflugsdampfers am Grenzübergang Köpfchen als Gemeinschaftsprojekt zu realisieren. Durch die Enge des Raumes, in dem man sich wie auf einem Schiff organisiert, die Liebe zum Detail, die ständige Bewegung zu die vorbeifahrenden Autos und nicht zuletzt den Mannschaftsgeist wurde jedoch schnell eine derart starke Illusion geschaffen, dass man sich im Innern des Zollhäuschens umgehend – und unerwartet – an Bord eines Schiffes versetzt fühlt. Benjamin Fleig, Kurator der Ausstellung, über diesen Effekt: „Sous wunderbare Installation am Köpfchen, einem Ort des Übergang und der Transformation, ist ohne Zweifel voller Verweise. Das so Detailgetreue meint sicherlich kaum seine materielle Präsenz, sondern etwas Anderes, Tiefgründigeres, das unmittelbar die Grundfrage der Identität berührt.“

Der Wandel der Arbeit von einem lustigen Ausflugsdampfer zu einer Illusion, die den Betrachter inne halten lässt und in Staunen versetzt, ist bemerkenswert. Das Schiff an Land kennen wir als Narrenschiff. Zu einem solchen Vorhaben gehört immer auch ein bisschen Verrücktheit. Als Betrachter wie als Helfer ist man gern bereit, sich den Hirngespinsten der Künstlerin hinzugeben.