EINFÜHRUNG von Ana Sous

Die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner eigenen Vergänglichkeit ist ein ebenso allgemeingültiges wie uraltes Charaktermerkmal unserer Spezies. Die ältesten Spuren menschlicher Existenz geben bereits Hinweise auf frühe Religionen – damit verbunden: die Vorstellung eines Ortes jenseits dieses Lebens. Bis heute bietet jede Religion eine Antwort auf die Frage des Verbleibes nach dem Tod.

Die bekannten antiken Religionen begriffen das Jenseits als Ort konkreter – also irdischer – Geografie, das für die Menschen nicht nur nach ihrem Dahinscheiden erreichbar war. Die griechische Mythologie erzählt von Helden wie Orpheus und Herakles, die den Weg in die Unterwelt antraten und von dort gesund und munter zurückkehrten. Weit verbreitet war die Vorstellung, das Reich der Toten liege im Westen, dort, wo die Sonne untergehe. Für die alten Ägypter lag dieser Ort in der Wüste, Griechen und Germanen verorteten ihn jenseits des großen Ozeans – eine Anschauung, die man bis ins Mittelalter verfolgte. Wer konnte schon wissen, was jenseits des Horizontes, an den Rändern der bis dahin bekannten Welt auf einen wartete?

Ähnliche Gedanken mussten auch die großen Forschungs- und Entdeckungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts begleitet haben. Wie auch die Verstorbenen traten Persönlichkeiten wie Alexander von Humboldt, James Cook, Joseph Banks und Charles Darwin die Reise ins Neue, ins Unbekannte an, ohne zu wissen, was jenseits des Horizontes auf sie warten mochte. Sie alle nahmen dabei den Weg über den großen Ozean im Westen – laut griechischer und nordischer Mythologie in Richtung T otenreich.

Was unterscheidet also die Fremdartigkeit des Todes von der ferner Länder und fremder Kulturen? Bietet die Forschung nicht vielleicht Schnittstellen, sodass der Tod als Konsequenz allen Seins das letzte Fremde darstellt, das es zu erforschen gilt?

Auf der Suche nach Antworten ist das Verhältnis des Menschen zum Tod seit Jahrhunderten einem stetigen Wandel unterzogen. Das kirchlich geprägte europäische Mittelalter etwa ließ keinen Raum für Interpretationen. Im Sinne einer eschatologischen Auslegung der Bibel fand die irdische Existenz des Menschen seine Berechtigung im Jenseits. Nur in Folge eines tugendhaften und sittsamen Lebens durfte man auf die Erfüllung des christlichen Heilsversprechens hoffen und sich des ewigen Lebens im Himmelsreich sicher sein.

Die spätmittelalterliche Kunst hatte in diesem Kontext eine mahnende Funktion. In Totentanzdarstellungen in der Buchmalerei oder auf Fresken agierten Skelette und bereits im Verwesungsprozess begriffene Tote, Transi genannt, als Mittler, die die Lebenden an die Kürze ihres irdischen Seins und die Allgemeingültigkeit des Todes erinnern sollten. Auch die Literatur bietet Beispiele für die Auflösung der Grenzen zwischen Totenreich und unserer Welt. In der im Spätmittelalter sehr verbreiteten Legende Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten warnen die letztgenannten eindrücklich vor einem genusssüchtigen Leben: „Quod fuimus, estis. Quod sumus, eritis.“ („Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr.“)

Während diese Auseinandersetzung mit dem Tod ganz der Botschaft Memento mori gewidmet war, verschrieben sich Künstler des Barock wie Willem Kalf und David Bailly der Vanitas, einer subtileren Herangehensweise. Die niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts verzichteten auf die Darstellung von Toten als mahnende Mittler. Bildelemente wie Früchte und Blumen wiesen auf die Vergänglichkeit weltlichen Seins, Genussmittel und Luxusartikel auf die Nichtigkeit aller irdischen Freuden hin.

Im Zuge der Aufklärung verschob sich die Bedeutung vom Jenseits auf das Diesseits. Die religiöse Weltanschauung wurde abgelöst, das Heilsversprechen auf die Welt der Menschen übertragen. Die Mahnung Memento mori galt nun mehr als Erinnerung an die Kürze des menschlichen Lebens; der Appell: Nutze deine Zeit.

Und heute? Der eigene Tod scheint in unserer Gesellschaft zunehmend in den Hintergrund gerückt. Die enormen Fortschritte der medizinischen Forschung und der medial propagierte Jugendwahn lassen Gedanken an die Endlichkeit der eigenen Existenz verblassen. Längst ist unser Leben nicht mehr auf das Jenseits ausgerichtet. Die Kirchen verlieren weithin an Bedeutung.

Trotzdem: Wie lässt sich die enorme Popularität von Tod in der medialen Öffentlichkeit erklären? Belletristik und Fernsehen sind voll von Kriminalgeschichten. Täglich sterben Dutzende in der Programmvielfalt der deutschen Fernsehlandschaft. Besonders beliebt: Geschichten um Gerichtsmediziner, mittels deren trockenen Humors den detaillierten Filmaufnahmen der Absprung zur seichten Prime-Time-Unterhaltung gelingt.

Was kümmern uns da dann noch die paar Bürgerkriegsopfer in den Nachrichten? Es sterben immer nur die anderen.

So leicht wollen wir es uns dann doch nicht machen. Der Verlust der Vorstellung eines Lebens im Jenseits als allgemeinem Konsens hat zu einem Glaubensvakuum geführt. Surrogate wurden geschaffen. Vampir- und Engelsgeschichten haben Konjunktur. Diese Wesen verkörpern nicht nur das ewige Leben, sondern auch die ewige Jugend. In schutzengelähnlicher Funktion stehen sie den Menschen zur Seite. Ihr Tod manifestiert sich jedoch in dieser Welt. Sie werden gewissermaßen zu den perfekteren Menschen.

Diese sehr nahe liegende Lösung wird der komplexen Problematik nicht gerecht. Sie befriedigt kaum das Bedürfnis der Menschen nach dem Begreifen des Todes. Auffällig hingegen, dass sich in den letzten Jahren Ausstellungen über Vergänglichkeit und Tod großer Beliebtheit erfreut haben, so beispielsweise Fraktale IV: Tod im entkernten Berliner Palast der Republik kurz vor dem Beginn der Abrissarbeiten 2006, oder die vor zwei Jahren im Kölner Wallraf-Richartz-Museum stattfindende Ausstellung Auf Leben und Tod. Außerdem ist noch bis nächste Woche die Ausstellung Schwarze Romantik im Städel-Museum in Frankfurt zu besichtigen. Sie setzt sich in Teilen ebenfalls mit der Kürze des menschlichen Daseins und dem Tod auseinander.

Auch bezeichnend, dass einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, Damien Hirst, sich intensiv mit der Thematik beschäftigt. Seine Werke The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living – Sie erinnern sich an den Hai in Formaldehyd? – und For the Love of God, der diamantbesetzte Menschenschädel, der 2007 für rund 75 Mio Euro versteigert wurde, haben weltweit große Wellen geschlagen.

Auch, wenn sich der Zugang zu diesen Werken nicht unbedingt jedem erschließt: Der Tod ist und bleibt als unausweichliches Ziel in unserem Leben verankert. Die künstlerischen Herangehensweisen sind so unterschiedlich wie unsere Gesellschaft heterogen. Eine Entwicklung lässt sich jedoch seit dem Mittelalter feststellen: Der Tod selbst – damit verbunden die Auseinandersetzung des Einzelnen mit seiner eigenen Vergänglichkeit – berührt uns weniger, vielmehr geraten wir – und das zuhauf – mit dem Tod anderer, mit Toten in Kontakt. Die Grenzen zwischen Dies- und Jenseits sind nicht mehr so fließend wie noch vor einigen Jahrhunderten. Der Tod stellt heute mehr denn je eine Zäsur dar, wenn auch eine, die sich aufschieben lässt.

Vera Sous gelingt mit ihren Köpfen und Leibern ein erster Schritt, um die Grenzen erneut aufzulösen. Ihre Transi treten mit ihrer eindrücklichen Mimik und den tiefen Blicken wieder in Kommunikation mit uns. Lange hingen sie in dem Raum, in dem ich schlafe, wenn ich bei meiner Mutter zu Besuch bin. Ganz anders als gedacht, beunruhigte mich ihre Gegenwart nicht, vielmehr schienen sie sich in der Dunkelheit des Zimmers Witze zu erzählen. Ihr optimistischer Charakter ergab sich wohl aus der Freude, die die Erschaffung dieser Zeitgenossen meiner Mutter bereitete. Ich muss gestehen, als ich letzte Woche – die Ausstellung war bereits aufgebaut – noch einmal dort war, fehlten sie mir regelrecht, so sehr hatten sie den Raum mit Leben gefüllt.

Sicherlich begegnen wir ihnen in unserer Welt, der Welt der Lebenden. Einen Eindruck vom Jenseits vermitteln sie nicht. Nichtsdestotrotz rufen sie uns mit ihren entrückten Gesichtern den Tod als letzte Konsequenz des Lebens in Erinnerung. Vielleicht gelingt es Vera Sous mit dieser Ausstellung, die Lücke zwischen den Jahrhunderten zu schließen: Egal, wie die Vorstellungen der Menschen aller Zeiten aussahen und wie sie sich unterschieden – am Tod als Aufbruch zu etwas Neuem, Unbekanntem änderte sich nichts.